Die Geheime Bibliothek
 
Bogarde, Slecht, Hahman, Kipling, Gradmann

Es ist stockdunkel draussen. Noch mehr als vier Stunden, bis wir gegen 8:00 Uhr Hamburg erreichen werden. Es ist eine äusserst bemerkenswerte Nacht und meine verstörten Gedanken lassen mich nun nicht mehr einschlafen. Zwar schlummerte ich am Abend recht schnell ein, aber kaum war ich eingenickt, wurde ich durch seltsame Geräusche wieder geweckt. 
Ein Rascheln und Stöhnen drang aus dem nächsten Abteil an mein Ohr. Dann ein dumpfer Schlag und wieder ein Schlag. Die Hahman war nebenan eingestiegen, fiel mir ein (sie hatte auf einem eigenen Abteil bestanden) und sicher war nun ihr Leben bedroht! 
Ich schüttelte den Schlaf von mir und machte mich eilig auf, in ihr Abteil zu gelangen. Das war aber eine nicht zu unterschätzende Kletterpartie. Zunächst musste ich aus unserer Tür und auf das Dach des Waggons klettern. Zum Glück half mir Kipling, den ich in meiner Aufregung geweckt hatte, dort hoch zu kommen. Er gab mir Räuberleiter und beschwerte sich nicht mal, als ich mit meinem Schuh ganz unglücklich gegen seinen Kopf stieß, während ich mich nach oben zog. 
Dann an der Reling bis zur nächsten Abteiltür 
entlang hangeln, mit dem Fuß die Tür öffnen, 
den Körper ins Abteil hinein schwingen und 
mit einem Sprung die Hahman befreien - das 
war zumindest mein Plan gewesen. Ich kam 
aber nur bis zum ersten Fenster von Hahman‘s 
Abteil. Da stockte mir der Atem und an ein 
weiteres Vordringen war absolut nicht mehr 
zu denken.

Der Schein einer schwankenden Kerosinlampe, die das Abteil in ein gespenstisch tanzendes Licht tauchte, ließ meinen Blick auf den Rücken von Hahman fallen, die ihren Kopf wie wild hin und her bewegte, tief vergaben zwischen den Schenkeln einer splitternackten Frau. Hahman‘s offene, feuerrote Haare tanzten wie ein flackerndes Feuer auf Bauch und Becken der Fremden und waren das einzige, was die Nackte zumindest zeitweise spärlich bedeckte.
Seltsam, das erste, was mir durch den Kopf schoss, war, dass ich Hahman noch nie mit offenen Haaren gesehen hatte und ehrlich erstaunt war, wie lang ihre Haare waren. Dann erst wurde ich gewahr, dass die nackte Frau nur noch halb auf der Sitzbank liegend offenbar vor Lust ganz erstaunlich zuckte. Die Zuckungen waren noch heftiger als die von Alfred und ich hätte wohl lachen müssen, wenn nicht meine ganze Aufmerksamkeit von ihren Kopf, der von der Bank zum Boden herunterhing, gefangen genommen worden wäre. Ihr Kopf stieß nämlich von Zeit zu Zeit gegen die Abteilwand und ihre massigen Brüste schwappten dann zeitversetzt fort von ihrem eigenen Kinn, welches sie ansonsten abwechselnd bis zur Gänze bedeckten.
Ich weiß nicht, wie lange mich dieses Bild in seinen Bann gezogen hätte, bis ich wieder einen klaren Gedanken hätte fassen können. In der nächsten Sekunde war diese Überlegung aber hinfällig, denn alles wurde noch viel schlimmer und ich wäre um ein Haar von dem fahrenden Zug gestürzt, so sehr erschrak ich. Als ob sie mich bemerkt hatte, so drehte sich Hahman ganz plötzlich und mit einem Ruck zu mir um. 
Ihr Gesicht erschien ganz dicht an der Fensterscheibe und in ihren Augen war eine Mischung aus Schuld und Hass zu sehen, die ich weder in die eine noch in die andere Richtung zu deuten vermochte. Niemals aber werde ich ihr Gesicht in diesem Zustand vergessen können und ich bete zu Gott, dass die fremde Frau noch am Leben ist, wenn wir in Hamburg ankommen. Das wirklich bestürzende nämlich war, in dem kurzen Moment bevor Hahman die Gardine des Abteilfensters mit einem Riss zuzog, ihr blutverschmiertes Gesicht dicht hinter der Scheibe zu sehen.
Nun zermartere ich mir den Kopf und sage mir, dass die Fremde doch gezuckt hat und also noch am Leben gewesen sein müsse. Aber dann beschleicht mich wieder der Verdacht, dass kein normaler Mensch mit Absicht seinen Kopf so gegen eine Wand schlägt, auch wenn diese nur aus Holz gefertigt ist. Es bleiben noch vier Stunden bis Hamburg. Vier quälende Stunden, bis ich endlich Gewissheit habe. Aber wie begegne ich dann der Hahman. Was reden? Kipling hat mir die Geschichte übrigens nicht geglaubt. Aber mein Gott, er hat doch mitbekommen, dass ich rübergeklettert bin. Es ist auf jeden Fall kein Traum und ich habe doch gesehen, was ich gesehen habe. Was soll nur werden ... Wie agieren ... wie verhalten ...

Vier Stunden später:
Als wir in Hamburg den Zug verlassen, klopft mein Herz bis in meine Ohren. Mit zitternden Knien steige ich aus dem Abteil und da steht sie, die Hahman. Ihre Haare sind sehr ordentlich zum obligatorischen Dutt gewickelt. Ihre Kleidung tadellos. Als wäre nichts gewesen, gibt sie einem Burschen etwas Geld. Der nimmt einen Koffer und eine Hutschachtel und folgt der nun angekleideten, fremden Frau in das Bahnhofsgebäude. Zuvor hatte Hahman sich von der Fremden mit einem Handschlag verabschiedet! 
Mir bleibt der Mund offen stehen, so baff bin ich. Seit wann schütteln sich Frauen die Hände? Das schlägt dem Fass den Boden aus. Damit ist sie eindeutig zu weit gegangen. Ich bin fassungslos. Wenigstens lebt die fremde Frau, versuche ich mich zu beruhigen, aber das mindert meine Empörung keineswegs. 
Da kommt die Hahman auch schon auf mich zu. Mit nur einem Blick macht sie mir unmissverständlich klar, dass niemals auch nur ein Wort über die Nacht verloren werden wird. Mir bricht der Schweiß aus. Zum Glück hat mir Kipling kein Wort geglaubt, der würde ansonsten ständig wieder davon anfangen, der alte Bock. So kann ich das Erlebte, wenn auch nicht ungeschehen machen, so aber doch hoffentlich schnell und weitest gehend vergessen. 
Die nächste Zeit aber wird mir ein eisiger Schauer über den Rücken laufen, wann immer ich die Hahman essen sehe, so viel ist gewiss.
Mittwoch, 8. März 1882
Die Reise nach London
Nach einer verstörenden Begegnung im Zug erreichen wir am nächsten Morgen in aller Frühe Hamburg. Welch ein Glück, die „Dar Mlodziezy“ läuft noch am selben Nachmittag mit der Flut aus, Kurs direkt nach London!
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Hamburg